Erzbistum Paderborn
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Empfehlung der DBK zur Seelsorge an Behinderten

Hinweis

in: KA 119 (1976) 231-233, Nr. 161; Abdruck in Auszügen

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3. Seelsorge an Behinderten

3.1
Der Behinderte in der Gemeinde
Entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung finden sich Behinderte auch in den Kirchengemeinden. Dort sind sie aber oft unbekannt und werden von der Seelsorge häufig übersehen. Oft registriert man den einzelnen Behinderten erst, wenn er z.B. im Gottesdienst auffällig wird.
Der Seelsorger wird mit der Problematik des Behinderten oft erst befasst, wenn Fragen der Betreuung, der Hilfe oder gar der Unterbringung in einem Heim akut werden und die Angehörigen den Seelsorger um Rat, Hilfe oder Vermittlung bitten.
Die Seelsorge beschränkt sich dann meist auf die Fürsorge für den Behinderten und seine Angehörigen.
3.2
Vorurteile und Hemmnisse
Der seelsorgerliche Kontakt mit Behinderten und deren Angehörigen wird durch eine Reihe von Hemmnissen und Vorurteilen erschwert, die psychologischer, manchmal auch theologischer Art sind, meist jedoch auf Unkenntnis beruhen.
3.2.1
Seelsorge an Behinderten, insbesondere an Geistigbehinderten, erscheint vielen Seelsorgern oft gar nicht nötig. Sie glauben, der Behinderte sei wegen seiner geminderten Geistes-, Sinnes- oder Körperkräfte in seinem ewigen Heil nicht gefährdet; er könne eine persönliche Glaubensentscheidung nicht treffen und sei nicht imstande, den Glauben bewusst zu leben. Die Meinung „er kommt von selbst in den Himmel“ oder „er kann nichts Böses tun“ wird unkritisch und undifferenziert auf alle Behinderten übertragen.
3.2.2
Weiterhin besteht die Auffassung, es sei sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, mit Behinderten einen verbalen Kontakt aufzunehmen. Ein solcher erscheint für den Seelsorger aber als Voraussetzung jeder Seelsorgearbeit unabdingbar. Formen nonverbalen Kontaktes sind ihm fast unbekannt.
3.2.3
Die Schwierigkeiten gegenüber den Behinderten, die in den Gemeinden und bei den Seelsorgern vorliegen, werden durch die Tendenz der Angehörigen noch erschwert, die Behinderung oder gar den Behinderten möglichst zu verbergen.
3.3
Notwendigkeit der Seelsorge
Der Behinderte ist mehr als andere Gemeindemitglieder auf den Seelsorger und auf die Seelsorge angewiesen.
3.3.1
Der Behinderte braucht wie jeder Christ zur Vermittlung des Heils die Gemeinschaft der Kirche, wie sie beim Gottesdienst, bei der Spendung der Sakramente sowie bei den Veranstaltungen und Gruppenarbeit in der Gemeinde in Erscheinung tritt. Er empfindet den Ausschluss von dieser Gemeinschaft nicht nur als Verweigerung des Zugangs zu Christus, sondern auch als Ausstoßung aus der Gemeinde und als gesellschaftliche Diskriminierung.
3.3.2
Im Bewusstsein seiner eigenen Behinderung und im Vergleich mit den Nichtbehinderten erlebt der Behinderte die Frage nach dem Sinn seines Lebens viel intensiver. Er erwartet deshalb von der Seelsorge und von seinen Mitchristen ein besonderes Maß an Verständnis und Hilfe.
3.3.3
Die Angehörigen oder sonstige Bezugspersonen des Behinderten sind für den Seelsorger als Mittelspersonen bedeutsam, über die er Zugang zum Behinderten finden kann. Sie bedürfen aber auch selbst der seelsorgerlichen Hilfe. Sie müssen vor allem zur persönlichen Annahme des Behinderten motiviert werden und brauchen Hilfen zur Bewältigung der Situation, ihren christlichen Glauben zu erhalten. Dabei darf nicht übersehen werden, dass neben dem verbalen Kontakt noch andere Formen und Zeichen der Zuwendung und Anerkennung möglich sind.
3.4
Moralische Bewertung
Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, dass im kirchlichen Bereich die Behinderung und deren Verursachung häufig noch Vorurteilen und einer negativen moralischen Bewertung unterliegt.
3.4.1
Entweder wird die Behinderung selbst als Folge sündhaften Verhaltens der Eltern angesehen oder es werden Symptome der Behinderung als Bosheiten des Behinderten ausgelegt. Dies führt zu einer Isolierung der Behinderten von der Gemeinde. Sie empfinden sich dann leicht als Randgruppe, die sich unverstanden und abgelehnt fühlt. Solche Vorurteile und moralische Abwertungen sind in der Seelsorge entschieden zu bekämpfen.
3.5
Sondergemeinde
Manche Gemeinden halten auch heute noch ihre pastoralen Verpflichtungen dem Behinderten gegenüber für erfüllt, wenn sie diesen in einer caritativen Einrichtung untergebracht und versorgt haben. Bisher haben sich für diese Einrichtungen noch Ordensleute oder Priester zur Verfügung gestellt, die aus dem Kreis der Gemeinde stammten und für diese Arbeit gleichsam stellvertretend freigestellt wurden. Heute glaubt man weithin, die Verantwortung für Behinderte und für Behinderteneinrichtungen durch eine Geldspende ablösen zu können. Bei einer solchen Einstellung werden aber keine sozialen Beziehungen zu den Behinderten geschaffen, sondern diese vielmehr in Sondergemeinden abgedrängt.
Die Einrichtungen der Behindertenhilfe, die im, Gebiet einer Kirchengemeinde liegen, leiden oft unter dieser Isolierung. Es bestehen häufig keine Kontakte mit der Kirchengemeinde. Die Kirchengemeinde fühlt sich oft für diese Sondereinrichtungen (Sonderschulen, Tagesstätten, Heime oder Anstalten) nicht verantwortlich.
3.6
Seelsorge in Einrichtungen für Behinderte
Personelle Situation. Die personelle Situation der Seelsorge in Einrichtungen für Behinderte ist heute zunehmend kritisch geworden.
3.6.1
Immer weniger Ordensleute sind in den Einrichtungen der Behindertenhilfe tätig. Damit schwindet dort die „selbstverständliche“ Seelsorge, die bisher während und neben der täglichen Arbeit geleistet wurde.
3.6.2
Es genügt nicht, dass in die Einrichtungen der Behindertenhilfe kranke oder pensionierte Priester als Seelsorger entsandt werden. Diese sind oft nicht mehr in der Lage, die besonderen Aufgaben dieser Seelsorge wahrzunehmen.
3.6.3
Zu diesen Aufgaben gehört heute auch – bei der zunehmenden Ablösung der Ordensleute durch meist recht junge Mitarbeiter in Erziehung und Pflege – die Seelsorge unter den Mitarbeitern der Behinderteneinrichtungen. Diese Mitarbeiter müssen in Zukunft die Vermittler einer ordentlichen Seelsorge bei Behinderten sein. Sie bedürfen deshalb einer besonderen Vorbereitung für diese Aufgabe und einer ständigen seelsorglichen Begleitung.
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4. Auftrag der Seelsorge an Behinderten

4.1
Stellung des Behinderten in der Gemeinde
Die Pfarrgemeinde hat für alle Getauften ihres Bezirkes da zu sein. Der Behinderte muss deshalb in ihr seinen ordentlichen Platz finden. Er ist wie jeder andere in die allgemeine Seelsorge einzubeziehen. Wo das im Einzelfall (z.B. bei Verständigungsschwierigkeiten) nicht möglich ist, muss er trotzdem als vollwertiges Glied seiner Gemeinde anerkannt werden und dies auch zu spüren bekommen. Das schließt besondere Gottesdienste nicht aus, die spezielle Behinderungen berücksichtigen (wie z.B. Gehörlose, Blinde, Geistigbehinderte) und deshalb in anderen Gottesdiensträumen als der eigenen Pfarrkirche stattfinden.
Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass der Behinderte von der „Normalpfarrei“ als Zeichen angenommen werden muss, das sie daran erinnert, dass wir nicht im paradiesischen Zustand leben, sondern mit Leid und Not einer unheilen Welt konfrontiert sind.
4.2
Aktive Mitarbeit
In manchen Fällen ist es erstrebenswert, Behinderte (z.B. Blinde, Querschnittsgelähmte) in die aktive Gemeindearbeit mit einzubeziehen. Wenn der Behinderte nicht bloß Objekt der Seelsorge bleiben muss, ist dies für ihn wie für die Gemeinde zum Segen. (Kirchenvorstand, Pfarrgemeinderat, pfarrliche Dienste wie Küster, Seelsorgehelfer, Katechet usw.)
4.3
Mittragende Gemeinde
Der Behinderte und seine Angehörigen sind auf echte Hilfe der Gemeinde angewiesen. Die Gemeinde muss ihnen das Gefühl geben, voll akzeptiert zu sein, und ihnen Verständnis für ihre besondere Situation entgegenbringen. Dies darf jedoch nicht nur verbal geschehen. Es muss für den Behinderten und seine Angehörigen real erfahrbar sein.
So kann die Gemeinde mithelfen, dass der Behinderte und seine Angehörigen zu einer positiven Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens kommen, ja die Sinnhaftigkeit ihrer Behinderung im Glauben erfahren dürfen.
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5. Aufgabe der Seelsorge an Behinderten

5.1
Seelsorge und Fürsorge
Seelsorge an Behinderten ist nicht einfach gleichzusetzen mit caritativer Fürsorge, wenn auch das Zusammenwirken beider zur Glaubwürdigkeit einer christlichen Gemeinde gehört. Behinderte sind nicht bloß Objekte kirchlicher Mildtätigkeit, sondern anerkannte Glieder einer Gemeinde im Gottesdienst und jeglichem Lebensvollzug einer Gemeinde. Dies gilt auch für den Bereich der geistigen Behinderung, wo sich die Seelsorge primär an die Eltern, Angehörigen und Betreuer wenden muss.
5.2
Differenziertes Problembewusstsein
Für die Seelsorge an Behinderten ist ein erweitertes und differenziertes Problembewusstsein unerlässlich. Die Art der Behinderung und die jeweils verschiedene psychische und soziale Situation ist möglichst exakt zu erfassen. Nur so kann man dem Behinderten und seinen Angehörigen (z.B. beim Gottesdienst, im Religionsunterricht, bei der Sakramentenspendung, beim Hausbesuch usw.) gerecht werden.
5.3
Konkrete Aufgaben
Um eine wahrhaft christliche Einstellung zum Behinderten in unseren Gemeinden zu erreichen, sind folgende Aufgaben zu erfüllen:
5.3.1
Zur Vorbereitung der Seelsorger und der Gemeinde:
  • Information von Klerus und Pfarrgemeinderäten über die Arten der Behinderungen, ihre Ursachen und Auswirkungen. Dabei sollte besonders die Notwendigkeit der mitmenschlichen Begegnungen aufgezeigt werden.
  • Information über die menschliche und existentielle Not der Angehörigen und der Helfer.
  • Orientierung über die Gottesdienst- und Eucharistiefähigkeit, besonders bei Geistigbehinderten.
  • Darlegung der Möglichkeiten, den Behinderten und seine Angehörigen in das Gemeindeleben und die gottesdienstliche Feier einzubeziehen.
  • Einführung in diese Aufgaben bei der Aus- und Weiterbildung von Priestern und Mitarbeitern im seelsorglichen und religionspädagogischen Dienst. (Hier liegen z.B. besondere Aufgaben für die Diözesanakademien in Verbindung mit kirchlichen Facheinrichtungen der Behindertenhilfe vor.)
  • Behandlung von Fragen und Problemen der Behinderten in der Moral- und Pastoraltheologie (Fragen der Eugenik, Sterilisation, Ehen Behinderter, Gewissensbildung, Problemverarbeitung).
  • Praktische Einführung von Pfarrern und Mitarbeitern im kirchlichen Dienst in die Seelsorge an Behinderten.
  • Anregungen und Anleitungen für den brüderlichen Dienst der Gemeinden (z.B. Nachbarschaftshilfe, familienentlastende Dienste, Begleitung Behinderter, Fahrdienst, Freizeit und dergleichen).
  • Vorbereitung, Fortbildung und Freistellung von Geistlichen und Religionspädagogen für die Seelsorge und die Katechese in Einrichtungen für Behinderte.
  • Sorge für soziale Berufe im Bereich der Behindertenhilfe.
5.3.2
Sondermaßnahmen zur Ermöglichung einer fruchtbaren Seelsorge an Behinderten. Spezielle Maßnahmen sind für manche Behindertengruppen zu treffen. Hierzu gehören u.a.:
  • Sondergottesdienste (z.B. für Gehörlose, für Geistigbehinderte).
  • Veranstaltungen zur religiösen Weiterbildung der einzelnen Behindertengruppen.
  • Erfahrungsaustausch der Mitarbeiter in der Seelsorge an Behinderten (z.B. Arbeitsgemeinschaften, Fortbildungsseminare).
  • Sonderveranstaltungen im Bereich der Seelsorge und die Freizeitarbeit (z.B. Freizeiten mit Eltern und behinderten Kindern, Wochenendveranstaltungen zur religiösen Weiterbildung für Eltern behinderter Kinder).
  • Technische Hilfen für die Behinderten (z.B. Berücksichtigung der Rollstuhlfahrer, der Hörbehinderten, der Sehbehinderten bei den kirchlichen Veranstaltungen). Für diese Aufgaben sind Informationsmaterial und Anleitungen für die Arbeit mit einzelnen Behindertengruppen bereitzustellen.