Erzbistum Paderborn
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Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben1#

Dekret der Glaubenskongregation vom 24. November 2002

in: KA 146 (2003) 17-22, Nr. 20 (Auszug)

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III. Prinzipien der katholischen Lehre über Laizität und Pluralismus

5.
In Anbetracht dieser Problemkreise kann man zwar mit Recht daran denken, unterschiedliche Vorgangsweisen anzuwenden, die verschiedene Sensibilitäten und Kulturen widerspiegeln. Es ist jedoch keinem Gläubigen gestattet, sich auf das Prinzip des Pluralismus und der Autonomie der Laien in der Politik zu berufen, um Lösungen zu begünstigen, die den Schutz der grundlegenden ethischen Forderungen für das Gemeinwohl der Gesellschaft kompromittieren oder schwächen. Es handelt sich dabei nicht um „konfessionelle Werte“, denn diese ethischen Forderungen wurzeln im menschlichen Wesen und gehören zum natürlichen Sittengesetz. Wer sie verteidigt, muss sich nicht unbedingt zum christlichen Glauben bekennen, auch wenn die Lehre der Kirche diese Forderungen immer und überall als selbstlosen Dienst an der Wahrheit über den Menschen und das Gemeinwohl bekräftigt und verteidigt. Andererseits kann man nicht leugnen, dass die Politik auch auf Prinzipien Bezug nehmen muss, die einen absoluten Eigenwert haben, weil sie der Würde der Person und dem wahren menschlichen Fortschritt dienen.
6.
Der häufige Verweis auf die „Laizität“, die den politischen Einsatz der Katholiken lenken müsse, bedarf einer Klärung, die nicht nur terminologischer Natur ist. Die gewissenhafte Förderung des Gemeinwohls der politischen Gesellschaft hat nichts mit „Konfessionalismus“ oder religiöser Intoleranz zu tun. Für die katholische Morallehre ist die Laizität, verstanden als Autonomie der zivilen und politischen Sphäre gegenüber der religiösen und kirchlichen – aber nicht gegenüber der moralischen Sphäre –, ein von der Kirche akzeptierter und anerkannter Wert, der zu den Errungenschaften der Zivilisation gehört.2# Johannes Paul II. hat mehrere Male vor den Gefahren gewarnt, die dann entstehen, wenn die religiöse und die politische Sphäre miteinander verwechselt werden. „Sehr delikat sind die Situationen, in denen eine spezifisch religiöse Norm Gesetz des Staates wird oder zu werden droht, ohne dass man gebührend zwischen den Kompetenzen der Religion und jenen der politischen Gesellschaft unterscheidet. Die Identifikation des religiösen Gesetzes mit dem Zivilgesetz kann in der Tat die Religionsfreiheit unterdrücken und auch andere unveräußerliche Menschenrechte einschränken oder beseitigen“.3# Alle Gläubigen sind sich sehr bewusst, dass die spezifisch religiösen Akte (Bekenntnis des Glaubens, Teilnahme an den Gottesdiensten und den Sakramenten, theologische Lehren, wechselseitige Kommunikation zwischen den religiösen Amtsträgern und den Gläubigen usw.) außerhalb der Kompetenzen des Staates bleiben, der sich in diese nicht einmischen darf noch sie in irgendeiner Weise vorschreiben oder verhindern kann, mit Ausnahme begründeter Forderungen der öffentlichen Ordnung. Die Anerkennung der zivilen und politischen Rechte und die Gewährung der öffentlichen Dienste dürfen nicht von den religiösen Überzeugungen oder Leistungen der Bürger abhängig gemacht werden.
Eine ganz andere Frage ist das Recht und die Pflicht der Katholiken, wie auch aller anderen Bürger, aufrichtig die Wahrheit zu suchen und die moralischen Wahrheiten über das gesellschaftliche Leben, die Gerechtigkeit, die Freiheit, die Ehrfurcht vor dem Leben und die anderen Rechte der Person mit legitimen Mitteln zu fördern und zu verteidigen. Die Tatsache, dass einige dieser Wahrheiten auch von der Kirche gelehrt werden, mindert nicht die bürgerliche Berechtigung und die „Laizität“ des Einsatzes derer, die sich darin wiederfinden, und zwar unabhängig davon, welche Rolle die rationale Suche und die vom Glauben kommende Bestätigung bei der Anerkennung dieser Wahrheiten durch den einzelnen Bürger gespielt haben. „Laizität“ bedeutet nämlich in erster Linie Respekt vor jenen Wahrheiten, die der natürlichen Erkenntnis von dem in der Gesellschaft lebenden Menschen entspringen, auch wenn diese Wahrheiten zugleich von einer bestimmten Religion gelehrt werden, weil es nur eine Wahrheit gibt. Es wäre ein Irrtum, die richtige Autonomie, die sich die Katholiken in der Politik zu eigen machen müssen, mit der Forderung nach einem Prinzip zu verwechseln, das von der Moral- und Soziallehre der Kirche absieht.
Mit seinen Verlautbarungen in diesem Bereich will das Lehramt der Kirche weder politische Macht ausüben noch die freie Meinungsäußerung der Katholiken über kontingente Fragen einschränken. Es beabsichtigt jedoch – entsprechend der ihm eigenen Aufgabe –, das Gewissen der Gläubigen zu unterweisen und zu erleuchten, und zwar vor allem jener, die sich im politischen Leben einsetzen, damit ihr Handeln immer der umfassenden Förderung der Person und des Gemeinwohls dient. Die Soziallehre der Kirche stellt keine Einmischung in die Regierung der einzelnen Länder dar. Aber sie beinhaltet für die gläubigen Laien gewiss eine moralische Verpflichtung zu einem kohärenten Leben, die ihrem Gewissen innewohnt, welches einzig und unteilbar ist. „Sie können keine Parallelexistenz führen: auf der einen Seite das ‚spirituelle’ Leben mit seinen Werten und Forderungen und auf der anderen Seite das ‚welthafte’ Leben, das heißt das Familienleben, das Leben in der Arbeit, in den sozialen Beziehungen, im politischen Engagement und in der Kultur. Die Rebe, die im Weinstock Christi verwurzelt ist, trägt in allen Bereichen ihres Wirkens und Lebens Früchte. Alle Lebensbereiche der Laien sind im Plan Gottes inbegriffen. Er will, dass sie der geschichtliche Ort der Offenbarung und Verwirklichung der Liebe Jesu Christi zur Ehre des Vaters und im Dienst der Brüder und Schwestern werden. Jedes Tun, jede Situation, jede konkrete Verpflichtung – wie zum Beispiel die Kompetenz und die Solidarität in der Arbeit, die Liebe und Hingabe in der Familie und in der Erziehung der Kinder, der soziale und politische Dienst, das Künden der Wahrheit auf dem Gebiet der Kultur – bieten hervorragende Gelegenheiten für einen ständigen Vollzug von Glaube, Hoffnung und Liebe“.4# Wenn die Christen politisch in Übereinstimmung mit dem eigenen Gewissen leben und handeln, sind sie nicht Auffassungen ausgeliefert, die dem politischen Einsatz fremd sind, und betreiben auch nicht eine Form von Konfessionalismus. Vielmehr leisten sie auf diese Weise ihren stimmigen Beitrag, damit durch die Politik eine soziale Ordnung entsteht, die gerechter ist und mehr der Würde des Menschen entspricht.
In den demokratischen Gesellschaften werden alle Vorschläge frei diskutiert und geprüft. Wer im Namen des Respekts vor dem persönlichen Gewissen in der moralischen Verpflichtung der Christen, mit dem eigenen Gewissen kohärent zu sein, ein Zeichen sehen möchte, diese politisch zu disqualifizieren und ihnen die Berechtigung abzusprechen, in der Politik entsprechend ihren eigenen Überzeugungen bezüglich des Gemeinwohls zu handeln, würde einem intoleranten Laizismus verfallen. Diese Einstellung leugnet nicht nur jede politische und kulturelle Relevanz der christlichen Religion, sondern auch die Möglichkeit einer natürlichen Ethik. So würde der Weg zu einer moralischen Anarchie eröffnet, der mit keiner Form eines legitimen Pluralismus gleichgesetzt werden könnte. Die Herrschaft des Stärkeren über den Schwachen wäre die offenkundige Folge dieser Einstellung. Die Marginalisierung des Christentums würde darüber hinaus nicht den zukünftigen Entwurf einer Gesellschaft und die Eintracht unter den Völkern fördern, sondern die geistigen und kulturellen Grundlagen der Zivilisation selbst bedrohen.5#
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IV. Erwägungen über Teilaspekte

7.
In jüngerer Zeit ist es gelegentlich vorgekommen, dass – auch innerhalb einiger Vereinigungen und Organisationen katholischer Prägung – Positionen zu Gunsten politischer Kräfte und Bewegungen vertreten wurden, die in grundlegenden ethischen Fragen von der Moral- und Soziallehre der Kirche abweichen. Solche Einstellungen und Verhaltensweisen widersprechen grundlegenden Prinzipien des christlichen Gewissens und sind nicht mit der Zugehörigkeit zu Vereinigungen und Organisationen vereinbar, die sich katholisch nennen. In analoger Weise ist zu sagen, dass einige katholische Zeitschriften in gewissen Ländern die Leser bei politischen Wahlen in zweideutiger und unangemessener Weise orientieren, irrige Auffassungen über den Sinn der Autonomie der Katholiken in der Politik verbreiten und die oben erwähnten Prinzipien nicht in Betracht gezogen haben.
Der Glaube an Jesus Christus, der sich selbst „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) genannt hat, verlangt von den Christen, dass sie mit vermehrtem Einsatz den Aufbau einer Kultur vorantreiben, die, ausgerichtet am Evangelium, den Reichtum der Werte und Inhalte der katholischen Tradition neu darlegt. Die Frucht des geistlichen, intellektuellen und moralischen Erbes des Katholizismus in modernen kulturellen Ausdrucksweisen vorzutragen, ist heute notwendig und drängend und darf nicht aufgeschoben werden, auch um die Gefahr einer kulturellen Diaspora der Katholiken zu vermeiden. Wegen der errungenen kulturellen Stärke und der reichen Erfahrung an politischem Engagement, die die Katholiken in verschiedenen Ländern vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben, gibt es keinen Grund für sie, Minderwertigkeitskomplexe gegenüber anderen Auffassungen zu haben, die die jüngste Geschichte als schwach oder als totalen Fehlschlag entlarvt hat. Die Meinung, man könne das soziale Engagement der Katholiken auf bloße Strukturveränderungen beschränken, ist unzureichend und verkürzend. Wenn nämlich an der Basis keine Kultur steht, die fähig ist, die vom Glauben und von der Moral kommenden Ansprüche aufzunehmen, zu rechtfertigen und weiterzutragen, werden Veränderungen immer auf schwachen Fundamenten ruhen.
Der Glaube hat nie beansprucht, die sozialpolitischen Inhalte in ein strenges Schema zu zwängen. Man war sich immer bewusst, dass die Geschichte, in der der Mensch lebt, unvollkommene Situationen und oft rasche Veränderungen mit sich bringt. In dieser Hinsicht müssen jene politischen Positionen und Verhaltensweisen zurückgewiesen werden, die einer utopischen Vision folgen, welche die Tradition des biblischen Glaubens in eine Art Prophetismus ohne Gott verdreht, die religiöse Botschaft instrumentalisiert und das Gewissen auf eine bloß irdische Hoffnung ausrichtet, welche die christliche Spannung auf das ewige Leben hin aufhebt oder entstellt.
Zugleich lehrt die Kirche, dass es ohne die Wahrheit keine wahre Freiheit gibt. „Wahrheit und Freiheit verbinden sich entweder miteinander, oder sie gehen gemeinsam elend zugrunde“6#, hat Johannes Paul II. geschrieben. In einer Gesellschaft, in der man die Wahrheit nicht verkündet und nicht danach strebt, sie zu erlangen, wird auch jede Form echter Freiheitsausübung beseitigt und der Weg zu einem Libertinismus und Individualismus eröffnet, der dem Wohl der Person und der ganzen Gesellschaft schadet.
8.
In diesem Zusammenhang ist es gut, an eine Wahrheit zu erinnern, die in der öffentlichen Meinung heute nicht immer richtig verstanden und formuliert wird: Das Recht auf Gewissensfreiheit und besonders auf Religionsfreiheit, das von der Erklärung Dignitatis humanae des Zweiten Vatikanischen Konzils verkündet wurde, stützt sich auf die ontologische Würde der menschlichen Person und keineswegs auf eine Gleichheit der Religionen und kulturellen Systeme, die es nicht gibt.7# In diesem Sinn hat Papst Paul VI. bekräftigt, dass „das Konzil dieses Recht auf Religionsfreiheit in keiner Weise auf die Tatsache gründet, dass alle Religionen und alle Lehren, auch die irrigen, einen mehr oder weniger gleichen Wert hätten; es gründet dieses Recht vielmehr auf die Würde der menschlichen Person, die verlangt, dass man sie nicht äußeren Zwängen unterwirft, die das Gewissen bei der Suche nach der wahren Religion und ihrer Annahme zu unterdrücken drohen“.8# Die Bekräftigung der Gewissens- und Religionsfreiheit widerspricht deshalb nicht der Verurteilung des Indifferentismus und des religiösen Relativismus durch die katholische Lehre,9# sondern stimmt ganz damit überein.

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1 ↑ [Auf Abdruck der Stellungnahme des Vorsitzenden der DBK vom 16. Januar 2003 sowie der Erläuterungen wurde verzichtet; abgedruckt in: KA 146 (2003) 26-27, Nr. 24-25.]
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2 ↑ Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 76.
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3 ↑ Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1991, 4: AAS 83 (1991) 414-415.
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4 ↑ Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles laici, 59: AAS 81 (1989) 509.
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5 ↑ Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps: L’Osservatore Romano vom 11. Januar 2002.
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6 ↑ Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio, 90: AAS 91 (1999) 75.
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7 ↑ Vgl. II. Vat. Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 1: „Fürs Erste bekennt die Heilige Synode: Gott selbst hat dem Menschengeschlecht Kenntnis gegeben von dem Weg, auf dem die Menschen, ihm dienend, in Christus erlöst und selig werden können. Diese einzige wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen Kirche.“ Das hindert nicht daran, dass die Kirche die verschiedenen religiösen Traditionen mit aufrichtigem Respekt betrachtet und sogar anerkennt, dass es in ihnen „Elemente der Wahrheit und des Guten“ gibt. Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium, 16; Dekret Ad gentes, 11; Erklärung Nostra aetate, 2; Johannes Paul II, Enzyklika Redemptoris missio, 55: AAS 83 (1991) 302-304; Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus, 2, 8, 21: AAS 92 (2000) 743-744, 748-749, 762-763.
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8 ↑ Paul VI., Ansprache an das Kardinalskollegium: Insegnamenti di Paolo VI, Band 14, Vatikanstadt 1976, 1088-1089.
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9 ↑ Vgl. Pius IX., Enzyklika Quanta cura: ASS 3 (1867) 162; Leo XIII., Enzyklika Immortale Dei: ASS 18 (1885) 170-171; Pius XI., Enzyklika Quas Primas: AAS 17 (1925) 604-605; Katechismus der Katholischen Kirche, 2108; Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus, 22: AAS 92 (2000) 763-764.